Schirmfrau 2021: Loujain al-Hathloul
Wir fühlen uns geehrt, die saudi-arabische Frauenrechtsaktivistin Loujain al-Hathloul als unsere diesjährige Schirmfrau begrüßen zu dürfen. Im Mai 2018 wurde die bekannteste Frauenrechtlerin Saudi-Arabiens gemeinsam mit mehr als einem Dutzend anderer Menschenrechtsverteidigerinnen festgenommen. Mehr als drei Jahre lang war sie in Haft. Bis heute darf sie nicht frei sprechen.
Ihre Schwester Lina al-Hathloul lebt als Anwältin in Brüssel und ist damit eine der wenigen Familienmitglieder, die in der Lage und bereit ist, sich für ihre Schwester einzusetzen. Sie wird stellvertretend für ihre Schwester die Eröffnungsrede beim Festival halten.
Wir haben Lina darüber interviewt, wie es aktuell um ihre Schwester und Frauenrechte in Saudi Arabien steht.
HRFFB: Wir freuen uns sehr, dass Loujain in diesem Jahr unsere Schirmherrschaft übernimmt, denn sie ist eine bemerkenswerte Verfechterin von Frauen- und Menschenrechten. Wie ist die Situation der Frauen in Saudi-Arabien derzeit und welche Veränderungen sind am dringendsten erforderlich?
Lina al-Hatloul: Die Situation verbessert sich – dank des Engagements meiner Schwester und so vieler anderer, die im Kampf für die Menschenrechte der Frauen zum Schweigen gebracht wurden. Diese Verbesserungen werden jedoch durch anhaltende Verhaftungen, illegale Inhaftierung, Folter und Repression von Frauenrechtsaktivist*innen in Saudi-Arabien überschattet. Echte Reformen wird es erst geben, wenn MBS (Anmerkung* Mohammed bin Salman al-Saud, saudischer Kronprinz) aufhört, genau die Menschen zu inhaftieren, die die Verbesserung der Frauenrechte in Saudi-Arabien hart erkämpft haben.
Das System der männlichen Vormundschaft ist jedoch nach wie vor in Kraft. Frauen sind noch immer den Entscheidungen ihrer Männer ausgesetzt. Das “Ungehorsamsgesetz” erlaubt es männlichen Vormündern, ihre Frauen und Töchter daran zu hindern, selbst Entscheidungen zu treffen und erlaubt ihnen, sie zu misshandeln, ohne dass sie irgendwo Hilfe suchen können. Das ist nicht alles: Sie können zusätzlich in einem sogenannten "Pflegeheim" eingesperrt werden, das sie nur mit Zustimmung des männlichen Vormunds wieder verlassen dürfen, der ihren Arrest angeordnet hat.
Das ganze Land lebt aufgrund der strukturellen Unterdrückung in einer Atmosphäre der Angst. Das wird sich auch nicht ändern, wenn Aktivist*innen ständig schikaniert werden. Die dringendste Änderung, die wir fordern, ist ein Ende des illegalen Reiseverbots – gegen meine Schwester wurde im Rahmen von Loujains Freilassung ein fünfjähriges Reiseverbot verhängt – auch meine gesamte Familie darf nicht ausreisen. Das heißt: ich kann nicht nach Saudi-Arabien zurückkehren und meine Familie kann das Land nicht verlassen.
HRFFB: Deine Schwester war für ihren Aktivismus 1001 Tage lang inhaftiert und wurde im Februar 2021 mit Einschränkungen freigelassen. Wie ist ihre Situation und wie geht es ihr heute?
Lina: Loujain ist eine Kämpferin, das war sie schon immer. Selbst als sie im Gefängnis saß, hat sie für alle Frauen und politischen Gefangenen im Gefängnis gekämpft. Sie verweigerte zum Beispiel ihre vorzeitige Entlassung, um Gerechtigkeit für Folter zu fordern und setzte sich weiterhin für die Rechte der Frauen ein, obwohl sie zu Unrecht inhaftiert und im Gefängnis gefoltert wurde.
Heute ist Loujain nach 1001 Tagen im Gefängnis wieder zu Hause, aber sie ist weder frei noch haben wir Gerechtigkeit für all das, was sie durchgemacht hat. Als Teil ihrer Freilassung musste Loujain einer dreijährigen Bewährungszeit zustimmen, in der sie nicht öffentlich über ihren Aktivismus oder über das, was ihr im Gefängnis widerfahren ist, sprechen darf. Für die Folter, die sie im Gefängnis erlitten hat, hat sie keine Gerechtigkeit erfahren - obwohl Loujain also zu Hause ist, ist sie nicht wirklich frei, denn ohne Gerechtigkeit gibt es keine Freiheit.
HRFFB: Während ihrer Inhaftierung hast du dich international für ihre Freilassung eingesetzt. Was war deiner Meinung nach am hilfreichsten für deine Kampagne?
Lina: Wir haben uns hartnäckig und auf verschiedensten Ebenen für die Freilassung von Loujain eingesetzt. Internationaler Druck war für uns das wichtigste Instrument, das wir dabei einsetzen konnten, denn ohne internationalen Druck könnten Saudi-Arabien und MBS nicht für ihre anhaltenden Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden. Regierungen haben die Möglichkeit, Saudi-Arabien in einer Weise zur Rechenschaft zu ziehen, die der Durchschnittsbürger nicht hat, da sie auf vielen Ebenen mit Saudi-Arabien Geschäfte machen – und sie müssen dies auch weiterhin tun.
Darüber hinaus dürfen wir nicht die Hunderttausenden Menschen auf der ganzen Welt vergessen, die nicht nur Loujains Geschichte teilten, sondern sich auch bei ihren eigenen Regierungen für Loujains Freilassung einsetzten.
Loujains Geschichte mit der Welt zu teilen, hat uns sehr dabei geholfen, unsere Arbeit voranzutreiben und wir werden dies auch weiterhin tun – nicht nur für Loujain, sondern für alle inhaftierten Frauenrechtsverteidiger*innen und politischen Gefangenen.
HRFFB: Was kann die internationale Gemeinschaft tun, um die Rechte saudischer Frauen zu stärken?
Lina: Die internationale Gemeinschaft muss eine entscheidende Rolle in der Stärkung der saudischen Frauenrechte spielen – sie müssen wissen, dass ihre Stimme zählt. Der größte Fehler, den wir in unserem Kampf für Loujains Freiheit gemacht haben, war unser Schweigen zu Beginn ihrer Inhaftierung. Später erfuhren wir, dass Loujain während dieser Zeit, in der wir als Familie schwiegen, in einem Geheimgefängnis brutal gefoltert wurde. Wir waren der Vorstellung erlegen, dass unser Schweigen als Familie Loujain helfen könnte, aber in Wirklichkeit brachte es sie fast um. Als wir von Loujains Folter erfuhren, begannen wir, unsere Stimme zu erheben und haben nie damit aufgehört. Und nur dank unserer Stimmen und den Stimmen der internationalen Gemeinschaft – von Präsident*innen, Premierminister*innen und Abgeordneten bis hin zu Individuen aus der ganzen Welt, die laut wurden – ist Loujain jetzt zu Hause.
Aber der Kampf ist noch lange nicht zu Ende: Wir wissen, dass MBS hinter seiner Frauenförderungsmaske weiterhin Korruption und Verhaftungen von Aktivist*innen vorantreibt – deshalb darf die internationale Gemeinschaft nicht nachlassen, ihre Stimme zu erheben und Druck auszuüben.