Der SPD-Politiker und ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse war Willy Brandts wichtigster Gesprächspartner in der Sozialdemokratischen Partei in der DDR. Im Interview spricht er über seine Leidenschaft zur Politik, die Kraft von Dokumentarfilmen und die größten Herausforderungen unserer Zeit.
Human Rights Film Festival Berlin (HRFFB): Das diesjährige Festival steht unter dem Motto „The Good Fight“. Was ist der größte gesellschaftspolitische Kampf, den es aktuell zu führen gilt?
Wolfgang Thierse: Wir leben in einer Zeit, in der wir mit dramatischen Herausforderungen und Ungerechtigkeiten konfrontiert sind. Dazu gehört der Überfall Russlands auf die Ukraine und die sich zuspitzende Klimakatastrophe, die wir verhindern müssen. Es ist Aufgabe der Politik, die Lasten, aber auch die Chancen gerecht zu verteilen. Das ist eine große Herausforderung, die wirklich radikale Veränderungen unserer Produktionsweise und unseres Konsumverhaltens verlangt.
HRFFB: In vielen unserer Filme geht es genau um dieses Ungleichgewicht im Kontext der von Ihnen angesprochenen Produktionsprozesse. Wo sehen Sie Handlungsansätze für jede*n Einzelne*n, um sich nicht ohnmächtig zu fühlen?
Thierse: Allem voran muss eine gerechte Handels- und Ressourcenpolitik im globalen Maßstab betrieben werden. Was der einzelne Verbraucher tun kann, ist dagegen fast bescheiden, aber doch notwendig: Es geht um einen Bewusstseinswandel im Konsumverhalten. Man sollte mehr darauf achten, woher ein Produkt kommt, und sich fragen, ob der Preis dafür angemessen und fair ist – oder unverschämt billig. Denn unser bisheriges Konsumverhalten im Westen hat zu der Katastrophe geführt, in der wir uns jetzt befinden.
HRFFB: Der Willy-Brandt-Dokumentarfilmpreis für Freiheit und Menschenrechte soll herausragende Filmemacher*innen unterstützen, deren Arbeit exemplarisch für die Werte Brandts stehen. Warum sind Filme als Medium besonders gut für die Vermittlung von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität geeignet? Worin liegt ihr Potenzial für den gesellschaftlichen Wandel?
Thierse: Der Dokumentarfilm ermöglicht im Gegensatz zum Spielfilm eine größere Unmittelbarkeit und Authentizität. Er zeigt Menschen in ihrer realen Lebenswelt mit ihren Konflikten und Nöten und lässt sie in ihrer authentischen Sprache zu Wort kommen. Es gibt keine konstruierten, fiktiven Heldinnen und Helden. Dieser direkte Zugang erzeugt eine einzigartige Wirkung, anders als beim Spielfilm, der durch den Umweg über die Fiktion oft der Beschönigung, Verharmlosung oder gar Verlogenheit verdächtigt wird.
HRFFB: Es ist auch unser Ansatz als Filmfestival, Menschen einen direkteren Zugang zu Geschichten zu ermöglichen.
Thierse: Wer sich den täglichen Nachrichten aussetzt, erlebt eine Flut von Informationen über Konflikte, Kriege, Armut und Elend. Dies führt unweigerlich zu einem Prozess der Gewöhnung und Abstumpfung, sonst wäre es nicht auszuhalten. Der Dokumentarfilm hat die Chance, genau diesen Prozess zu durchbrechen, indem er ein einzelnes Ereignis, einen einzelnen Ort oder einen einzelnen Menschen in den Mittelpunkt stellt und dessen Geschichte erzählt. Diese Form der Vermittlung ist so viel eindrücklicher und dem Betrachter sowohl im Kopf als auch im Herzen nahe.
HRFFB: Sie selbst haben in der DDR an Drehbüchern für DEFA-Dokumentarfilme mitgewirkt. Müssen – und können – Dokumentarfilme objektiv sein?
Thierse: Dokumentarfilme sollen so präzise wie möglich sein, aber sie müssen nicht unparteiisch sein. Es gehört zum Wesen des Dokumentarfilms, etwas zur Sprache zu bringen, was sonst übersehen oder verfälscht wird. Diese Parteilichkeit halte ich für sehr wertvoll. In der DDR wurde der Film jedoch oft instrumentalisiert und als Agitationsinstrument genutzt, um ideologische Urteile über die Wirklichkeit zu verbreiten.
HRFFB: Sie haben selbst eine bewegte Biografie, haben Engagement in der DDR, während der Wendezeit und bis heute erlebt. Gab es in Ihrem Leben einen Moment, der Sie politisiert hat?
Thierse: Ich bin in einem sehr politischen Elternhaus aufgewachsen und habe die politische Leidenschaft von meinem Vater geerbt. Wenn man in der DDR lebt, in einem unfreien, kommunistischen Staat an der Grenze zum Westen, stellt man sich immer die Frage, wie man die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse verändern kann. Die Erfahrung von Einschränkung, Unfreiheit und Demütigung hat mich politisiert, die Sehnsucht nach einem anderen Land hat mich angetrieben. Wirklichkeit werden konnte dies erst mit der friedlichen Revolution von 1989/90. In diesem Moment fanden wir unsere öffentliche Stimme und verloren unsere Angst – und Angst ist ein zentraler Pfeiler einer Diktatur. Wir erkannten, wie viel Kreativität und Mut in uns steckten, die im Alltag der Diktatur verborgen geblieben waren. Das war der Aufbruch, an den ich mich mit großer Begeisterung erinnere. Es war der entscheidende Moment der friedlichen Revolution.
HRFFB: In ganz Europa erleben wir derzeit einen erschreckenden Rechtsruck – in Polen, Ungarn, Österreich, aber auch in Deutschland. Sie engagieren sich seit Jahren gegen Rechtsextremismus. Was kann man tun?
Das ist eine beunruhigende Entwicklung, die tiefere Ursachen hat. Dramatische Zeiten des Wandels sind auch Zeiten der Ängste, der Verunsicherung und damit Zeiten für Populisten, die einfache Antworten geben, die Lösungen für Probleme versprechen und die Menschen verführen. Es sind gefährliche Zeiten. Daher ist es erstens notwendig, dass sich die demokratischen Politiker und Parteien sichtbarer um Lösungen bemühen, ohne Wunder zu versprechen. Zweitens müssen sie ihr Handeln und ihre Entscheidungen verständlich machen und damit die Bürger zum Mitdenken, Mitfühlen und Mitmachen einladen. Das scheint mir das Entscheidende zu sein. Das Dritte ist: Die demokratischen Kräfte müssen solidarisch miteinander sein und die Abgrenzung zu den Nationalisten, Neonazis und Rechtsextremisten deutlich machen. Sie müssen denen entgegentreten, die Hass verbreiten.
Willy-Brandt-Gespräch 2023
Partner und Gegner – Die EU und China zwischen Kooperation und Systemrivalität
19. Oktober, 18.00 Uhr
Leibnitz-Gemeinschaft, Chasseestraße 111
10115 Berlin
„Risikominimierung anstatt Entkopplung“ ist die Losung der künftigen China-Politik der EU Deutschlands. Werden die neuen China-Strategien der Europäer den vielfältigen Herausforderungen gerecht? Wie lassen sich Handelsinteressen, Menschenrechte, Klimaschutz und globale Sicherheit miteinander in Einklang bringen? Diskussion mit Tanja Gönner, Lars Klingbeil, Didi Kirsten Tatlow, Jürgen Trittin und Harald Asel (Moderation).