Kindersoldaten: Opfer oder Täter?

Ein Essay von Manfred Nowak

Über den Autor:

 

Manfred Nowak ist Jurist und Professor für internationale Menschenrechte. Von 2004 bis 2010 war er als Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über Folter tätig. In seinem Essay schreibt er über seine Erfahrungen, den Weg von Kindersoldaten und die Frage von Schuld.

Im Oktober 2019 präsentierte ich der Generalversammlung der Vereinten Nationen als unabhängiger Experte und Lead Author eine Studie, in der es um die Frage der ethischen und rechtlichen Zulässigkeit des Freiheitsentzugs von Kindern ging. Denn während Erwachsene für ihre Verbrechen in Polizei-, Untersuchungs-, Straf- oder Schubhaft genommen werden und sogar lebenslang eingesperrt werden dürfen, ist die Kinderrechtskonvention diesbezüglich restriktiver: Artikel 37(b) bezeichnet die Haft von Kindern als allerletztes Mittel. Es darf nur dann zur Anwendung kommen, wenn ein Kind (bis zum 18. Lebensjahr) so gefährlich ist, dass gelindere Maßnahmen nicht ausreichen, um andere Menschen (oder auch das Kind vor sich selbst) zu schützen.

Der Grund dafür: Kinder und Jugendliche befinden sich in einem Entwicklungs- und Bewusstseinsstadium, in dem sie für ihre Taten nicht oder nur sehr beschränkt zur Verantwortung gezogen werden dürfen. Außerdem stellt der Freiheitsentzug von Kindern ein Mittel der strukturellen Gewalt dar, die in der Regel nicht zur „Besserung“ des Verhaltens des Kindes, sondern zu dessen Verrohung führt – also eher eine Spirale der Gewalt auslöst.

Der Freiheitsentzug von Kindern stellt ein Mittel der strukturellen Gewalt dar, die in der Regel nicht zur „Besserung“ des Verhaltens des Kindes, sondern zu dessen Verrohung führt.
Manfred Nowak, Jurist & Menschenrechtsanwalt

Die Studie mit dem Titel „United Nations Global Study on Children Deprived of Liberty“ hat auf der Basis empirischer Studien und der Auswertung einer großen Zahl statistischer Daten festgestellt, dass konservativ geschätzt weltweit mehr als 7 Millionen Kinder hinter Gittern sitzen.
Der weitaus größte Teil betrifft Kinder, die wegen schwieriger familiärer Umstände, einer Behinderung oder wegen ihres unangepassten oder unsozialen Verhaltens in sogenannten Institutionen – von Waisenhäusern bis zu Anstalten für „schwer erziehbare“ Kinder – untergebracht sind. Die zweitgrößte Gruppe betrifft Kinder, die schon strafmündig sind (in den meisten Staaten ab 14 Jahren) und wegen einer Straftat in Polizei-, Untersuchungs- oder Strafhaft sitzen. Viele Kinder oder Minderjährige, die mit ihren Familien oder unbegleitet aus ihren Herkunftsländern geflüchtet oder ausgewandert sind, befinden sich heute in geschlossenen Flüchtlingslagern oder Schubhaftzentren.
Für alle diese Kinder fordert die Global Study ein radikales Umdenken, nämlich Deinstitutionalisierung, Diversion und Verbot der Migrationshaft, und in vielen Staaten führen diese Empfehlungen auch dazu, dass deutlich weniger Kinder hinter Gittern sitzen.

Kinder und Jugendliche werden häufig durch soziale Medien oder Hassprediger in den Bann extremistischer oder terroristischer Organisationen gezogen. In vielen afrikanischen Staaten werden Kinder von bewaffneten Gruppen entführt und zur Gewalt gezwungen.
Manfred Nowak, Jurist & Menschenrechtsanwalt

Zwei Kapitel befassen sich mit Kindern in bewaffneten Konflikten und solchen, die aus Gründen der nationalen Sicherheit, also vor allem wegen einer Mitgliedschaft in terroristischen oder extremistischen Organisationen, in Haft sind.
Kinder und Jugendliche werden häufig durch soziale Medien oder Hassprediger in den Bann von extremistischen oder terroristischen Organisationen wie dem sogenannten Islamischen Staat in Syrien oder im Irak gezogen. In vielen afrikanischen Staaten wie Sierra Leone, Uganda, Somalia und Nigeria werden Kinder von bewaffneten Gruppen entführt und gezwungen, als Kindersoldaten zu kämpfen und an vorderster Front besonders grausame Gewalttaten wie Folter, Vergewaltigungen oder Verstümmelungen zu begehen.

Ich habe in meiner früheren Rolle als UNO-Sonderberichterstatter über Folter junge Menschen in Gefängnissen interviewt, die etwa zuerst von bewaffneten Gruppen wie den Maoisten in Nepal oder den Tamil Tigers in Sri Lanka aus der Schule entführt und als Kindersoldaten missbraucht, nach einem möglichen Fluchtversuch gefoltert und durch Verstümmelungen grausam bestraft und schließlich von Regierungstruppen festgenommen und wegen ihrer Mitgliedschaft in diesen bewaffneten Gruppen wieder gefoltert und bestraft wurden – ein fürchterlicher Teufelskreis, aus dem zu entkommen fast unmöglich schien.

Sind diese Kinder Opfer oder Täter?

Mit dieser Frage beschäftigt sich der Film „Theatre of Violence“, der den bekannten Fall des Kindersoldaten Dominic Ongwen behandelt, der im Alter von neun Jahren von der besonders brutalen Lord’s Resistance Army (LRA) im Norden Ugandas entführt, schon als Kind zu grausamen Verbrechen gezwungen wurde und sich später bis zu einem der führenden Kommandanten der LRA hochgearbeitet hat. Er wurde 2021 vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (International Criminal Court = ICC) wegen besonders brutaler Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 25 Jahren Haft verurteilt.

Ongwen gab zu, diese Verbrechen begangen zu haben. In seiner Berufung führte er jedoch aus, dass ihm seine schrecklichen Erfahrungen als Kindersoldat und das brutale Regime der LRA keine andere Wahl gelassen hätten, als diese schweren Verbrechen zu begehen. Dieser Zwang und seine daraus folgende psychische Krankheit seien Schuldausschließungsgründe – auch noch für Taten, die er im Erwachsenenalter begangen hat. Die Berufungskammer lehnte diese Argumentation ab und bestätigte die 25-jährige Haftstrafe des damals 40-jährigen ehemaligen Kindersoldaten.

In der Global Study haben wir gefordert, dass Kindersoldaten und Kinder als Mitglieder terroristischer oder extremistischer Organisationen vor allem als Opfer und nicht als Täter behandelt werden sollten. Das bedeutet, dass sie in der Regel nicht verhaftet, verfolgt und bestraft werden dürfen, sondern durch Rehabilitierungs-und Deradikalisierungsmaßnahmen wieder in die Gesellschaft integriert und im Idealfall mit ihrer Familie vereint werden sollten. Auch das Römische Statut des ICC sieht vor, dass Kinder bis zum vollendeten 18. Lebensjahr für ihre Taten nicht vor dem ICC zur Verantwortung gezogen werden dürfen.

Aber gilt das auch für ehemalige Kindersoldaten, die im Erwachsenenalter schwere Verbrechen begehen?

Auch wenn Kindersoldaten wegen ihrer schrecklichen Erfahrungen in der Kindheit meist ein Leben lang schwer traumatisiert sind, kommen sie doch in ein Alter, in dem sie für ihre als Erwachsene begangenen Verbrechen schuldfähig sind.
Manfred Nowak, Jurist & Menschenrechtsanwalt

Das Strafrecht beruht auf dem römisch-rechtlichen Grundsatz „Nulla poena sine culpa“ – keine Strafe ohne Schuld. Dieses Schuldprinzip bedeutet, dass Menschen für ihre Straftaten nur dann zur Verantwortung gezogen werden können, wenn sie auch wirklich schuldhaft – vorsätzlich oder fahrlässig – gehandelt haben. Kinder sind bis zum Alter der Strafmündigkeit, in der Regel 14 Jahre, absolut schuldunfähig, weil ihnen die Reife fehlt, das Unrecht ihrer Taten einzusehen. Jugendliche bis 18 Jahre sind nur bedingt schuldfähig. Aber auch Erwachsene, die an einer krankhaften seelischen Störung oder tiefgreifenden Bewusstseinsstörung leiden oder im Vollrausch eine Straftat begehen, können als schuldunfähig von der Strafe ausgenommen werden.

Auch wenn Kindersoldaten wegen ihrer schrecklichen Erfahrungen in der Kindheit meist ein Leben lang schwer traumatisiert sind, kommen sie doch in ein Alter, in dem sie wie andere Erwachsene für ihre als Erwachsene begangenen Verbrechen schuldfähig sind und daher auch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können. Ausnahmen gelten nur, wenn sie wirklich beweisen können, dass sie wegen ihrer schrecklichen Erfahrungen als Kindersoldaten an einer krankhaften seelischen Störung leiden, die ihre Zurechnungs- und Schuldfähigkeit ausschließt. Eine solche Entscheidung kann ein Strafgericht wie das ICC allerdings nur im Einzelfall unter Abwägung aller Umstände mit der Einbeziehung psychiatrischer Gutachten treffen. Auch wenn kein Schuldausschließungsgrund vorliegt, sollten die traumatischen Erfahrungen als Kindersoldat bei der Strafzumessung als mildernde Umstände berücksichtigt werden, wie eine Richterin des Internationalen Gerichtshofs in einer abweichenden Meinung hervorhob.

Das ethische Dilemma bleibt: für die Opfer dieser Verbrechen, für die Täter, die auch gleichzeitig Opfer sind, für die Richter und Richterinnen, die über solch schwierige Fragen entscheiden müssen, und für die Gesellschaft. Viel besser wäre es, wenn das völkerrechtliche Verbot der Rekrutierung von Kindersoldaten endlich in der Praxis durchgesetzt würde. Aber leider sieht die Realität anders aus: Oft sind es (ehemalige) Kindersoldaten wie Dominic Ongwen, die neue Kindersoldaten rekrutieren.
 

21. SEPTEMBER 2023