Mutlus Familie ist stolz. Gerade einmal 19 Jahre alt ist die Kurdin aus der türkischen Provinz Diyarbakır, als sie kurz vor dem Einzug in das Finale eines landesweiten Gesangswettbewerbs steht. Die Medien feiern die junge Frau, deren Name Programm zu sein scheint: Mutlu bedeutet glücklich auf Türkisch.
Heute guckt Mutlu bedrückt auf die Aufnahmen der TV-Show. „Ich habe mein eigenes Klagelied gesungen“, erinnert sie sich in dem Dokumentarfilm „My Name is Happy“ (türkisch „Benim Adım Mutlu“) an das kurdische Volkslied, das ihr 2015 zum Einzug ins Finale verholfen hat. Sie steckte gerade in den Vorbereitungen für ihren nächsten Auftritt, als ihr ein Mann in den Kopf schoss – weil sie zuvor seinen Heiratsantrag abgelehnt hatte. Mutlu überlebte den versuchten Femizid – doch sie sitzt seitdem im Rollstuhl. Die Verletzungen, die sie erlitt, waren so schwer, dass sie essen und sprechen erst wieder lernen musste.
Aufgefangen wurde Mutlu von ihrer Familie, besonders ihre ältere Schwester Dilek war für sie da. Bis das vermeintlich Unvorstellbare erneut geschah: Dilek wurde von einem Mann erschossen, mit dem sie zuvor eine Beziehung geführt hatte.
Trotz der Trauer um ihre Schwester und ihre zerbrochenen Träume gibt Mutlu nicht auf und arbeitet unermüdlich an ihrer Genesung. Heute ist sie Aktivistin für Frauenrechte: Auf TikTok hat sie 1,9 Millionen Follower*innen. Es ist ihr Fenster zur Welt, hier tauscht sie sich mit ihrer Community aus, die Mutlu aufgrund der Kugel in ihrem Kopf bewundernd „Iron Woman“ nennt. Außerdem hat sie einen Protestsong geschrieben. Er ist härter als ihre alten Lieder. Trap Beats vermischt mit traditionellen Elementen spiegeln Mutlus Wut über die patriarchalen Verhältnisse wieder.
Mit eindrücklich geschilderten Alltagsszenen, durchzogen von Archivaufnahmen aus der Talentshow und Nachrichtensendungen, folgt der preisgekrönte Dokumentarfilm Mutlu und ihrer Familie bei der Verarbeitung der schrecklichen Taten. Die intimen Einblicke der Regisseur*innen Nick Read und Ayse Toprak zeigen dabei vor allem eines: Mutlus Stärke.
Autorin: Gesine Gerdes
Infobox: Femizide
Femizid bezeichnet die Tötung einer Frau wegen ihres Geschlechts oder wegen bestimmter Vorstellungen von Weiblichkeit oder einer Rolle, die Frauen erfüllen sollen, es aber nicht tun. Laut der UN wurde 2021 mehr als die Hälfte aller getöteten Frauen durch einen (Ex-)Partner oder ein Familienmitglied umgebracht.
Die Türkei hat eine der höchsten Zahlen an Femiziden in der Welt. Trotzdem entschied Staatschef Erdoğan per Erlass den Austritt seines Landes aus der Istanbul-Konvention, einem internationalen Abkommen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen. Die nicht enden wollende patriarchale Gewalt und die unzureichenden Reaktionen der Justiz mobilisierten landesweit Proteste. Dennoch: Femizide sind ein globales Problem, das auch in Deutschland auftritt. Hierzulande tötet durchschnittlich alle drei Tage ein Mann seine (Ex-)Partnerin.
Der Begriff Femizid wurde von Diana E. H. Russell geprägt, einer feministischen Aktivistin und Soziologin. Während der Begriff in den USA seit den 1990er-Jahren genutzt wird, ist er in Deutschland bisher weniger geläufig. Oft werden Femizide in den Medien als „Familientragödien“ oder „Eifersuchtsdramen“ benannt – und dadurch verharmlost. Eine Gruppe von Journalistinnen, einer Überlebenden eines Femizidversuchs sowie anderen Expertinnen hat deshalb einen Leitfaden für die Berichterstattung von Femiziden veröffentlicht. Denn Medien und ihre Wortwahl beeinflussen oft, wie wir ein Ereignis oder eine Tat wahrnehmen und damit umgehen.
Und auch die Justiz spielt eine Rolle: Noch immer ist ein Femizid in Deutschland kein eigener Straftatbestand. Die Regierung hatte in ihrem Koalitionsvertrag zwar vereinbart, dass Gewalt gegen Frauen künftig strenger bestraft werden soll – von Femizid als Mord ist dort allerdings nicht die Rede.
Autorin: Jana Sepehr