„20 Tage in Mariupol“ zeigt die Belagerung der strategisch wichtigen Hafenstadt der Ukraine während der russischen Invasion hautnah. Der Dokumentarfilm des Pulitzer-Preisträgers Mstyslav Chernov zeugt von der rohen Brutalität und erschütternden Unmenschlichkeit des Krieges.
Mstyslavs Kamera filmt die schonungslose Realität: schwangere Frauen, die aus zerbombten Entbindungskliniken fliehen, behelfsmäßige Kindergräber, Zivilist*innen, die verzweifelt ums Überleben kämpfen. Gemeinsam mit seinen Kolleg*innen von Associated Press, dem Fotografen Evgeniy Maloletka und der Produzentin Vasilisa Stepanenko, den letzten in der Stadt verbliebenen internationalen Journalist*innen, stellt sich Mstyslav der überwältigenden Aufgabe, diese erschütternden Szenen nicht nur zu dokumentieren, sondern auch dafür zu sorgen, dass sie die Weltöffentlichkeit erreichen.
Dieser Film ist nicht nur ein Dokumentarfilm, sondern auch ein Appell an das kollektive Gewissen der Menschheit – eine schmerzhafte, intime Auseinandersetzung mit der erschreckenden Gleichzeitigkeit von der Banalität und Grausamkeit des Krieges. Mstyslav gewährt einen seltenen Einblick in seine persönlichen Erlebnisse während der Dreharbeiten.
Auszug aus dem Director’s Statement zu „20 Tage in Mariupol“
„Die Russen jagten uns. Sie hatten eine Liste mit Namen, darunter auch unsere, und sie kamen immer näher. Wir waren die einzigen internationalen Journalist*innen, die sich noch in der ukrainischen Stadt Mariupol aufhielten, und wir hatten seit mehr als zwei Wochen dokumentiert, wie die russischen Truppen die Stadt belagerten. Wir berichteten aus dem Krankenhaus, als die bewaffneten Männer begannen, die Gänge zu durchstreifen. Die Chirurg*innen gaben uns weiße Kittel zur Tarnung. Plötzlich, im Morgengrauen, stürmten ein Dutzend Soldaten herein: „Wo sind die Journalisten, verdammt noch mal?“ Ich schaute auf ihre blauen Armbinden, die für die Ukraine standen, und versuchte herauszufinden, ob es sich um verkleidete Russen handelte. Ich trat vor und gab mich zu erkennen. „Wir sind hier, um euch rauszuholen“, sagten sie. Die Wände des Operationssaals bebten unter dem Artillerie- und Maschinengewehrfeuer von draußen und es schien sicherer zu sein, drinnen zu bleiben. Aber die ukrainischen Soldat*innen hatten den Befehl, uns mitzunehmen. Wir rannten auf die Straße und ließen die Menschen um uns herum zurück: die Ärzt*innen, die uns Schutz gewährt hatten, die schwangeren Frauen, die beschossen worden waren, und die Menschen, die in den Fluren schliefen, weil sie nirgendwo anders hingehen konnten. Sie alle zurückzulassen, fühlte sich schrecklich an.
Neun Minuten, vielleicht zehn, eine Ewigkeit zwischen Straßen und zerbombten Wohnhäusern. Als in unserer Nähe Granaten einschlugen, ließen wir uns auf den Boden fallen. Die Zeit spannte sich von einer Granate zur nächsten, unsere Körper verkrampften sich, wir hielten den Atem an. Eine Schockwelle nach der anderen erschütterte meine Brust und meine Hände wurden kalt. Wir erreichten einen Eingang und wurden mit gepanzerten Fahrzeugen in einen dunklen Keller gebracht. Erst dort erfuhren wir von einem Polizisten, warum die Ukrainer*innen das Leben von Soldat*innen riskiert hatten, um uns aus dem Krankenhaus zu holen. „Wenn sie euch erwischen, werden sie euch vor die Kamera zerren und euch zwingen zu sagen, dass alles, was ihr gefilmt habt, eine Lüge ist“, sagte er. „All eure Bemühungen und alles, was ihr in Mariupol getan habt, wird umsonst gewesen sein.“ Der Polizist, der uns einst angefleht hatte, der Welt seine sterbende Stadt zu zeigen, wollte nun, dass wir gehen. Er drängte uns zu den Tausenden von kaputten Autos, in denen Menschen Mariupol verlassen wollten. Es war der 15. März. Wir wussten nicht, ob wir es lebend schaffen würden.
Portrait
Mstyslav Chernov wurde 1985 im Osten der Ukraine geboren. Seit jeher interessiert er sich für die Suche nach der Wahrheit und nutzt dafür verschiedene Formen. Furchtlos erzählt er seine Geschichte und widmet sich der Aufgabe, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Mstyslavs Antrieb ist es, wie er in einem Artikel schreibt, „der Welt die Verwüstung aus erster Hand zu zeigen“. So hat er in über 50 Ländern der Welt über die Erfolge, Kämpfe und Leiden der Menschheit berichtet.
Mstyslavs Arbeit ist unvoreingenommen. Seine Fotos, Videos und Texte erkunden die Vielfalt der menschlichen Facetten – das Schöne und das Tragische, das Gewöhnliche und das Außergewöhnliche. Seine Arbeiten für The Associated Press wurden weltweit in den renommiertesten Medien veröffentlicht.
Mstyslavs Wurzeln liegen in Charkiw, einer nur 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernten Stadt. Hier wurde Chernov schon als Jugendlicher mit der harten Realität und ihren Konflikten konfrontiert. Der Umgang mit der Waffe war Teil seiner Schulausbildung. „Das erschien mir sinnlos. Ich dachte, die Ukraine sei von Freunden umgeben“, sagt Mstyslav.
Sein Weg hat ihn von den lokalen ukrainischen Medien auf die internationale Bühne geführt. Seine ersten Beiträge zu globalen Themen befassten sich mit sozialen und gesundheitlichen Problemen in der Ukraine, Myanmar und Kambodscha. Seine Arbeit erregte Aufmerksamkeit und bald arbeitete er mit den Vereinten Nationen, dem Internationalen Roten Kreuz und anderen renommierten Nichtregierungsorganisationen zusammen. Er wurde zur Stimme der Stimmlosen, zu einem Vermittler ihrer Geschichten in die Welt.
Seit er für The Associated Press arbeitet, hat er aus dem Zentrum von Konflikten berichtet, von der europäischen Migrationskrise bis hin zu Kriegen in Syrien und Afghanistan. Aber seine ersten und vielleicht bewegendsten Einsätze waren die in der Nähe seiner Heimat, beginnend im Jahr 2014 mit dem russischen Abschuss von Flug MH-17. Als der Krieg immer näher an seine geliebten Städte Charkiw und Mariupol rückte, fuhr er mit seinen langjährigen Kolleg*innen, dem Fotografen Maloletka und der Produzentin Stepanenko, in die Nacht hinaus. „Aber nur wenige Menschen glaubten an einen Krieg, und als die meisten ihren Irrtum erkannten, war es schon zu spät“, erzählt er.
Sein Mut und sein Engagement trugen Früchte: Für ihre journalistische Arbeit in Mariupol bekamen Mstyslav und seine Kolleg*innen Maloletka, Stepanenko sowie Lori Hinnant den renommierten Pulitzer-Preis in der Kategorie "Dienst an der Öffentlichkeit" verliehen. Heute setzt Mstyslav Chernov seine Suche nach der Wahrheit fort und ist noch immer entschlossen, „der Welt die Verwüstung aus erster Hand“ zu zeigen."