Bildung in Afghanistan: Jetzt nicht den Blick abwenden!
Von Hila Limar
Journalistin, Ingenieurin, Richterin, Ärztin – Berufe wie diese habe ich häufig gehört, wenn ich als Vorsitzende der Hamburger NGO Visions for Children e.V. auf Projektreisen afghanische Schülerinnen nach ihren Wünschen und Zielen für die Zukunft gefragt habe.
Mit dem Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan und der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 werden die Zukunftspläne der Mädchen akut bedroht. Als unsere Kolleg*innen ein Jahr später mit Schülerinnen der 6. Klasse an einer Projektschule in Kabul sprechen, sind ihre Träume noch da. Aber sie mischen sich mit Sorgen: „Mit den Taliban an der Macht kann ich keine Journalistin werden, denn nach der 6. Klasse darf ich nicht weiter zur Schule gehen“, sagte etwa Saba*, eine Sechstklässlerin.
TALKING HUMANITY:
Nebenschauplatz des Krieges: Mädchenbildung in Konfliktregionen
16. Oktober, 18.30 Uhr, Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung
Inmitten von Kriegen wird Bildung zu einem raren Gut – das vor allem Mädchen oft verwehrt bleibt. An unserer Diskussionsrunde nehmen erfahrene Journalist*innen und Expert*innen für humanitäre Hilfe teil, die eine vielschichtige Perspektive auf die Überschneidung von Krieg, Geschlechterungleichheit und Bildungszugang bieten. Wir werden uns intensiv mit den moralischen, politischen und logistischen Hürden sowie den anhaltenden Bemühungen befassen, um Mädchen Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Wir laden unser internationales Publikum dazu ein, sich mit der komplexen Realität dieser Themen auseinanderzusetzen. Es ist ein Aufruf zum Handeln für das allgemeine Recht auf Bildung, insbesondere für Mädchen, die im Schatten von Krieg und Krisen leben.
Anschließende Filmvorführung von: Children of the Taliban.
Partner: Global Partnership for Education (GPE)
Afghanistan – ein Ort, der für viele mit Krieg, Armut und Unterdrückung verbunden ist. Doch hinter den Nachrichten und politischen Entwicklungen dürfen wir nicht vergessen, was das Land eigentlich ausmacht: seine Menschen, ihre unermüdliche Stärke durch Jahrzehnte der Konflikte und ihr Streben nach einer besseren Zukunft.
Die dramatischen Krisen in Afghanistan lassen sich nicht ignorieren: Der Kollaps der Wirtschaft, der Einbruch des Finanz- und Gesundheitswesens, Jahre extremer Dürre und die Machtübernahme der Taliban mit einhergehenden Sanktionen nahmen Millionen Menschen die Lebensgrundlage. Kinder leiden besonders: Hunger, kaum Zugang zu sauberem Trinkwasser, tödliche Krankheiten und die Zunahme von Kinderarbeit sind nur einige der Folgen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung, rund 23 Millionen Menschen, können sich kein Essen mehr leisten.
Parallel erfolgt unter der De-facto-Regierung eine Menschenrechtsverletzung nach der anderen: Das Recht von Frauen und Mädchen auf Bildung, Arbeit und freie Kleidungswahl wird massiv eingeschränkt. Reisen oder zum Arzt gehen dürfen sie nur in männlicher Begleitung. Der Besuch von Parks und Schönheitssalons und sportliche Aktivitäten sind für sie verboten. Frauen werden immer stärker aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen und ihre Sicherheit ist zunehmend bedroht.
Krisen, die in ihrem Ausmaß entmutigen können. Doch gerade jetzt ist es wichtiger denn je, die Zivilbevölkerung nicht sich selbst zu überlassen, denn sie kämpft Tag für Tag weiter: Lehrer*innen, die aufgrund aus dem Ausland eingefrorener Staatsgelder auch nach Monaten ohne Bezahlung weiter in den Klassenräumen stehen und unterrichten. Eltern und Schüler*innen, die, obwohl es ihnen an allem fehlt, ihr Recht auf Bildung einfordern und einer selbstbestimmten Zukunft entgegenstreben. Und nicht zuletzt unsere Kolleg*innen in afghanischen NGOs, die sich trotz massiver Gefahren und Unsicherheiten unermüdlich für ihre Mission einsetzen, mit den De-facto-Autoritäten in Verhandlungen gehen und so viele Kinder erreichen, wie sie nur können.
„Ich bin ein Mädchen, aber ich habe trotzdem dasselbe Recht wie ein Mann, zu unserer Gesellschaft beizutragen und sie zu verbessern. Dafür brauche ich Bildung“, bringt es Afia* an der Grundschule in Kabul auf den Punkt.
Bildung ist ein Schlüssel zur Freiheit. Sie ermöglicht es Menschen, über die Grenzen ihrer Umstände hinauszuschauen und eine bessere Zukunft zu sehen. Sie stärkt die Stimmen von Frauen und Mädchen, auch wenn man versucht, sie in den Schatten zu drängen. Wenn wir Kreisläufe von Armut und Gewalt durchbrechen wollen, müssen wir in die Bildung investieren.
Daher ist jeder Tag, den wir mit Visions for Children e.V. an der Seite unserer mutigen Kolleg*innen und durch die Unterstützung großzügiger Spender*innen in Deutschland in Afghanistan aktiv bleiben können, ein Gewinn. Während sich institutionelle Geldgeber teils zurückziehen oder Förderungen pausieren, ist die Rolle von Privatpersonen, wie Fördermitgliedern, die unsere Arbeit monatlich unterstützen, umso wichtiger – und wir sind für jede*n Einzelne*n dankbar, die*der sich mit der afghanischen Zivilbevölkerung solidarisch zeigt. Diese Überzeugung gibt uns die Kraft, dafür zu kämpfen, dass es auch weiterhin so bleibt.
*Namen der Schülerinnen zu ihrer Sicherheit geändert.
Über die Autorin: Hila Limar setzt sich als geschäftsführende Vorstandsvorsitzende des Vereins Visions for Children e.V. seit mehr als 17 Jahren für verbesserte Bildungschancen von Kindern in Kriegs- und Krisengebieten ein. Der Verein realisiert seit 2006 in Zusammenarbeit mit lokalen Partner*innen nachhaltige Bildungsprojekte an Schulen in Afghanistan und Uganda und wird durch Spenden finanziert.